Ein halbes Jahr ist es her, als ich WM Tickets für Montpellier orderte. Ich freute mich riesig, die WM in Europa und dann noch in Südfrankreich. Wenn das keine Reise wert ist.
Ganz besonders freute mich auf Wenjing Sui/Han Cong. Sie live zu sehen, ist ein ganz besonderes Erlebnis. Nun ja, es kam alles ganz, ganz anders. Die russischen Sportler wurde von der Teilnahme ausgeschlossen und die Chinesen reisten komplett nicht an. Die Elite nicht dabei. Was soll das für eine WM werden? Und meine Freude schwand ein wenig dahin.
Doch so nach und nach änderten sich meine Gedanken. Dann ist es eben so. Jetzt liegt der Fokus auf die anderen Teilnehmer. Wenn sie ihr Bestes geben, wird es auch ein guter Wettkampf. Die Aufmerksamkeiten ändern sich. Es ist die Chance auf einen ganz anderen Wettkampf. Positiv denken, sagte ich mir. Wie sehr mich dieser Wettkampf beeindrucken würde, ahnte ich nicht im geringsten.
Die Paare
Der Paarlauf war natürlich am meisten betroffen. Die fünf besten Paare fehlten. Ich vermisste die chinesischen Paare ganz besonders - und Tarasova/Morozov, die in dieser Saison zwei grandiose Programme präsentierten. Aber es ist, wie es ist.
Das Starterfeld war extrem ausgedünnt, so dass alle Paare für die Kür automatisch qualifiziert waren.
Wer aber gewinnen will oder auf dem Podium landen, muss alles geben. Mein absolutes Lieblingspaar dieser Saison sind Riku Miura/Ryuichi Kihara. Was sind die beiden für Programme gelaufen. Unglaublich, fast immer fehlerfrei. Sie haben so eine Frische und Moderne an sich, laufen ungemein sicher und strahlen Natürlichkeit und Freude aus. Die Programme selbst wunderschön, absolut zu ihnen passend. Sie haben den größten Leistungssprung aller Paare gemacht. Dann waren da noch Knierim/Frazer, als Bestdotierte und Cain-Gribble/Leduc. Für die Medaillen kamen noch James/Radford und Safina/Berulava in Frage. Nach dem Kurzprogramm kam dann die Stunde der Wahrheit. Der Punkteunterschied zu Gold war nicht sehr groß. Für Bronze kamen drei Paare in Frage. Dann die letzte Gruppe. Für alle Paare ging es erstmalig um eine Medaille oder Sieg bei einer WM. Man spürte die Anspannung und wie es auf ihren Schultern lastete. Plötzlich ist man nicht Siebenter oder Achtplatzierter, sondern im Fokus der Öffentlichkeit.
Man spürt alle Blicke auf sich gerichtet und weiß um die Chance des Lebens. Und so kamen dann Riku und Ryuichi wohl aufs Eis. Was folgte war ein mittleres Desaster. Kaum ein Sprung wollte Riku gelingen, kein Wurf. Eine Kür, deren Schönheit durch die Stürze fast zerfiel. Aber sie hielten ihr Tempo, behielten die Sicherheit in den Hebungen und wahrten tapfer ihre Mimik bis zum Schluss. Ryuichi vollkommen erschöpft, Riku mit sorgenvollem und enttäuschen Gesicht. Bruno Marcotte (ihr Trainer) nahm sie in den Arm, beruhigte. Er ist für mich ohnehin einer der besten Trainer. Er hat immer positive Worte, auch in diesem schweren Moment. Riku konnte sich vor Enttäuschung und Weinen auf der C&C-Bank kaum aufrecht halten. Und dann geschah etwas Berührendes. Marcotte und Ryuichi richteten sie auf. Sie sollte nicht als ein Häufchen Elend die Bewertung entgegennehmen. So saßen sie gemeinsam und aufrecht als die Werte aufleuchteten.
Was dann geschah, war für mich und viele wohl unfassbar. Sie führten und hatten somit Bronze sicher. Und das nächste Gefühlschaos begann. Tränen, Freude, Erleichterung. Die Halle begrüßte die Bewertung. Ich sah sie auch vor James/Radford. Vielleicht nicht an diesem Abend, aber generell.
Nie war ich für die Subjektivität der Jury so dankbar. Sie haben wohl ihr Potential mit gewertet.
Und nach diesem Gefühlskarussel dachte man, jetzt geht es ruhig weiter. Niemand ahnte, was dieser Abend noch an Drama bereithielt.
Genau wie für das japanische Paar war es auch die Chance auf eine WM-Medaille für Cain-Gribble/Leduc. Ich liebe ihre beiden Programme. Sie haben eine Ausstrahlung, die fesselt und ihre Bewegungen zur Musik sind so harmonisch und anmutig. Auch sie spürten wohl den Druck. Ashley hatte nicht mehr die Spur von Sicherheit in ihrem Programm. Und dann geschieht das Unfassbare.
Sie stürzt, bleibt liegen. Timothy bemüht sich um sie, setzt sie auf. Minutenlanges Bangen. Das Publikum geschockt, die Halle totenstill, entsetzte Gesichter. Der Schock steht allen ins Gesicht geschrieben. Aber sie kann nicht mehr weiterlaufen. Timothy bleibt nichts anderes übrig, als die Sanitäter zu rufen. Sie legen sie vorsichtig auf die Trage und bringen sie aus der Halle. Das Publikum applaudiert. In diesen dramatischen Minuten stehen Alexa und Brandon bereits an der Bande und müssen alles mit ansehen. Alexa umarmt Timothy noch.
Und im Angesicht dieses Dramas sollen sie jetzt ihre Kür präsentieren.
Und dies ist so ein Moment, an dem man zerbricht oder stark wird. Wenn sie heute Weltmeister werden wollen, müssen sie aufs Eis und alles zeigen. Und sie gehen aufs Eis. Es ist fast unwirklich nach diesem Ereignis. Die Musik startet und sie beginnen. Der Twist gelingt, sie laufen, werden immer sicherer, sind voll fokussiert auf ihr Programm. Alles gelingt und die Gesichter werden entspannter. Sie laufen wie in einer Blase unterstützt vom Beifall des Publikums. Nur noch wenige Takte, Hebung, Schlußpose und Tränen der Freude. Welch eine Erleichterung bei Alexa und Brandon und beim Publikum. Es war eine wunderschöne Kür. Und sie haben gewonnen und zwar weltmeisterlich.
Man kann denken; ohne die russischen und chinesischen Paare war es nicht schwer, den Titel zu holen. Das ist zu kurz gedacht. Es reicht nicht, eine einmalige Chance zu erhalten, man muss sie erfolgreich nutzen. Es wird kein Gold verschenkt, man muss es sich verdienen, fokussiert sein, Nerven behalten, mit der Favoritenrolle zurecht kommen und am Ende zwei fehlerfreie Programme laufen. Und das haben die beiden getan. Sie haben in dieser schwer zu ertragenden Situation Stärke und Größe gezeigt und sind verdient Weltmeister. Strahlende Gesichter überall, auch bei den Japanern und bei James/Radford. Und als Alexa und Brandon zur Siegerehrung aufliefen, strahlten die Scheinwerfer nur auf sie. Und Alexas Kleid war für wenige Sekunden ein goldglänzendes Gewand. Wie passend. Ein versöhnlicher Abschluss eines dramatischen Abends.
Die Männer
Der Männerwettbewerb war am wenigsten von den abwesenden Nationen beeinflusst. Chen hatte noch abgesagt. Er ist Olympiasieger, mehr geht nicht. Kann man auch irgendwie verstehen. Also war jetzt die japanische Armada für das Podium favorisiert. Wer kann in dieses Bollwerk eindringen? Das war die Frage. Die Amerikaner? Die Italiener? Oder vielleicht Morisi Kvitelashvili?
Nach dem Kurzprogramm war es eng und Shoma Uno in Führung. Würde er ENDLICH Weltmeister werden können und nach gefühlten 100 Jahren endlich sein Silberdasein beenden? Er hatte schon mehrmals die Chance auf Gold (in Abwesenheit von Hanyu). Aber es gelang ihm nicht. Kagiyama war schon besser als er und sitzt ihm nach dem Kurzprogramm im Nacken. Vier Punkte in einer Männerkür sind Nichts. Auch die jungen Amerikaner „scharren schon mit den Füssen“ und wollen aufs Podium. Es war eng. Kein absoluter Favorit. Ein Fehler und das Podium ist perdü.
Ich muss gestehen, dass ich mich nicht mehr an viele Programme erinnern kann. Täglich zwei Wettkämpfe mit mind. 24 Teilnehmern ist auch für Eiskunstlauffans Hardcore. Aber was ich nicht vergesse, ist die Stimmung in der Halle, das Publikum, das jeden Läufer freundlich begrüßt, Beifall spendet bei gelungenen und auch nicht gelungenen Elementen. Natürlich erinnere ich mich an Kevin Aymoz, dem die Nerven in diesem Jahr mächtig zusetzten. In beiden Programmen. Leider, leider.
Ich hatte so gehofft, daß ihm der Heimvorteil eher beflügelt. Aber das war leider nicht der Fall. So muss ich noch immer auf seine Sternstunde warten. Auch Keegan Messing hatte keinen guten Tag erwischt und das gleich zweimal. Aber wenigsten das Bild seines kleinen Sohnes, dass er immer in die Kamera hält, zaubert einem ein Lächeln ins Gesicht. Es sind diese kleinen Begebenheiten, die für einen Moment alles wieder auflockern und die Menschen in der Halle zum Lachen bringen.
In der letzten Gruppe wurde die Spannung in der Halle fast körperlich spürbar. Wer holt Gold? Vincent Zhou läuft die Kür der Saison und wird nicht mehr von Tomono und Grassl überholt. Beide fallen auf hintere Plätze zurück. Dafür macht Morisi Kvitelashvili einen guten Sprung nach vorn.
Er wird nur mit verhaltenem Beifall bedacht. Vielleicht weil er bei Tutberidze in Russland trainiert?
Dann der Showdown Kagiyama gegen Shoma Uno. Uno läuft nach dem Bolero. Allerdings nach einer sehr modernen Interpretation. Vor dem Fernseher habe ich die ersten zwei Minuten die Melodie nicht erkannt. Das ist live in der Halle ganz anders. Sofort erkennt man die typischen rhythmischen Klänge. Die Musik gefällt mir auf Anhieb. Sie ist modern, nicht althergebracht und doch sehr melodisch. Eine sehr gute Version. Die Kür ist ein Meisterstück. Und Uno läuft, springt, füllt die Musik mit seiner Choreo. Lambiel indessen an der Bande läuft innerlich mit, spornt ihn an, klatscht, hüpft, dreht sich. Er ist mit ihm auf dem Eis. Und es reicht. Shoma Uno gewinnt Gold. ENDLICH und absolut verdient. 312 Punkte, die beste Wertung seines Lebens. Es war eine gute Entscheidung, zu Lambiel zu gehen. Uno ist selbstsicherer, kämpferischer und souveräner. Das ein langer und schwerer Weg zum Weltmeistergold. Und nun ist er ganz oben auf dem Podium. Die Freude ist unglaublich. Ein Sieg, den man von Herzen gönnt. Kagiyama gewinnt Silber und ihm fällt das Lächeln auf dem Podium doch etwas schwer. Uno weiß, wie sich das anfühlt. Aber die Freude von Shoma Uno und Vincent Zhou (Bronze) überstrahlen das.
Einen noch größeren emotionalen Moment lieferte Ivan Shmuratko aus der Ukraine im Kurzprogramm. Zu seinem Auftritt erschien er im blauen Shirt mit der Aufschrift Ukraine und einem Herz in den Nationalfarben. Ohne die Möglichkeit eines Trainings lief er sein Programm. Alle in der Halle standen auf, waren innerlich bewegt. Der Jubel bedeutete, wir stehen an Deiner Seite. Bei der großen Kür trug er dann ein hellblaues Oberteil mit aufgedruckten Wolken, dass wie ein Zeichen für Freiheit und Frieden stand. Er lief sein Programm mit aller Inbrunst seines Herzens. Am Schluss seiner Kür umarmte er sich selbst und es war, als würde er sein Land und das ganze ukrainische Volk umarmen. Ich weiß nicht, ob ein Auge trocken blieb in der Halle. Es war ein sehr bewegender Moment. Das Publikum klatschte und stand für ihn auf, für ihn und sein Land.
Anmerkung:
Ich wollte die Kriegswirren eigentlich außen vor lassen. Aber dieser junge Mann hat uns gezeigt, dass niemand – egal wo - außen vor ist.